Wo kommst du eigentlich her?
Mich hat diese Frage nie wirklich gestört. Das habe ich immer als echtes Interesse an meiner Person abgebucht. Zumindest, wenn mich das Deutsche fragen. Auch ich selbst möchte oft wissen wo die eine oder andere interessante Person herkommt.
Bei meinen türkischen Landsleuten läuft das in eine andere Richtung. Hier wird versucht Gemeinsamkeiten zu finden. Es gleicht schon fast einer Rasterfahndung. Die Leute von hier sind so und so, die Leute von da sind so. Fast jede Region hat so ihre tiefverwurzelten Eigenheiten, die ein interessierter Türke auch geklärt und bestätigt haben muss. Deshalb habe ich diese Frage mal für mich ganz detailliert durchgedacht.
Wo komme ich eigentlich her? Ich gehöre zu den Menschen, die eine wirklich kleine Keimzelle der Herkunft aufweisen können. Zwei Dörfer, eines davon so winzig, dass es auch als Dorf nicht herhalten kann, gelegen auf der Anatolischen Hochebene in der Provinz Sivas. Ein klimatisch anstrengender Ort. Super trockene heiße Tage und extrem Kalte Nächte und das im Sommer! Als jungendliche Touristin hatte ich mir das als Wüstenklima erklärt. Aber es war ja keine Wüste. Getreidefelder, Gärten, große Weideflächen für die Schaf- und Rinderherden mit einem fast unendlichen Horizont. Beeindruckende Hirtenhunde, die die Kontrolle über diese Herden hatten und denen man am liebsten nur aus sicherer Distanz zusah. Diese Hunde waren Fluch und Segen zugleich. Sie haben sich meinen lebenslangen Respekt erworben: Nie alleine das Haus verlassen, solange die Hunde einen noch nicht akzeptiert hatten, schon gar nicht im Dunkeln. Sich auf den Bauch legen, falls man doch mal alle Ratschläge vergessen hatte und abends alleine auf den Dorfplatz ging! Diese nützlichen Mistviecher! Zum Glück konnte man sie mit Nahrung freundlich stimmen. Ein Stück Brot reichte oft aus. Genügsam waren sie, muss man ihnen lassen.
Erst in dieser Region habe ich den Begriff Horizont erfassen können. Unsere Anreise war immer von Istanbul mit dem Bus über sich wandelnde Landschaften. Meistens begann die Reise abends um 20:00 Uhr, damit man die meiste Zeit der 12 Stunden schlafend verbringen konnte, gestört von den Zwangspausen, die alle zwei Stunden sein mussten. Immer wieder zweckmäßig gestaltete Busbahnhöfe, mit regionalen Lebensmitteln, unnützen Souvenirs und viel Tee! Diese kleinen schönen Teegläser gehören in die türkische Kultur, aber für mich auch auf diese Busbahnhöfe. Kleine Tee-Jungen die mit großen Tabletts, beladen mit Teegläsern durch die Tischreihen laufen, oder mit Blechen voller Simits für die Reisenden. Egal wann diese Busse ankamen, morgens oder mitten in der Nacht, diese Kinder waren immer wach und aktiv. Eine meiner ersten Beobachtungen von Kinderarbeit.
Diese unendlichen Nächte der Bussfahrten vergingen wider Erwarten immer wieder. Bei Morgengrauen waren wir meist kurz hinter Ankara und Anatolien breitete seinen ganzen Charme aus. Weit und breit keine Menschenseele. Am Horizont ging langsam die Sonne auf. Wir fuhren ja immer genau gen Osten. Wenn ich mir heute Landschaften vorstelle, dann steht dieser Teil Anatoliens für Weite, eine Landschaft mit einer tiefgründigen traurigen Seele. Meistens lief in diesen frühen Morgenstunden über das Busentertainment auch schon die traditionelle türkische Musik. Meist mit dem Saz begleitete Volksmusik. Tieftraurig voller Herzschmerz und dazu diese unendliche anatolische Ebene als Kulisse. Pure Heimatromantik auf höchstem Niveau! Das hat sich tief in meine Seele eingebrannt. Jahre später wollte ich mal meinen Kindern diese Landschaft und meine Herkunft nahe bringen, aber es ist mir nur in Ansätzen gelungen. Mit der Perspektive aus dem Auto ohne die Volksmusik, ohne die Strapazen der Nachtreise, mit der Teilanreise per Flugzeug, ist dieses Gefühl nicht nachvollziehbar! Künstlich ist so etwas nicht herbeizuführen. Das muss jahrelang erlebt und gelitten werden!
Relativ pünktlich um 8 Uhr wurden wir mit unseren Koffern müde und ramponiert von der langen Fahrt am Feldweg, etliche Kilometer von unserem Dorf entfernt, abgesetzt. Wenn wir Glück hatten, wartete schon ein Verwandter auf uns, sonst warteten wir auf den Verwandten. Wir wurden mit dem Traktor und Anhänger, später auch mit Autos abgeholt. Das waren für uns alle spannende und auch anstrengende Reisen. Immer wieder sind wir so zurück in unsere Herkunft angereist, um die Wahrheit, unseren Ursprung, den Stillstand, die Entwicklung und die Herzensgüte dieser unverdorbenen Menschen zu spüren. Aber auch diese Zeit bekam Risse, wurde vergessen. Meine Oma verließ hochbetagt und schweren Herzens diese Landschaften und verlebte ihre letzten Jahre in und um das westliche Istanbul. Das kleine Dorf wurde noch kleiner und vielleicht ist es auch schon fast verschwunden. Es dient, so habe ich gehört, heute einigen Nostalgikern noch als Sommerresidenz. Für mich war es der Ort weit weg von der Zivilisation. So zumindest in meinen kindlichen Empfindungen. Es gab bis in meine Teenagerjahre keinen Strom bei meiner Oma im Haus. Ein Lehmhaus, an dem ich sogar mal eine Wand repariert habe. Ein beständiger Sommerregen hatte die Wetterseite sehr ramponiert. Die Wand drohte zu zerfallen, sie löste sich einfach auf. Mein angeheirateter Opa hatte einen Lehmschlamm angesetzt um diese Wand zu reparieren. Dass dieser Opa nicht mein leiblicher Opa war, wurde mir erst viele Jahre später bewusst.
Meine Oma war eine ungewohnt schöne Frau und war Zeit ihres Lebens gesegnet mit heiratswilligen Männern. Bis ins hohe Alter war das ihr Schicksal: Männer die sie haben, heiraten wollten. Die arme Frau hatte nach ihrem ersten verstorbenen Mann unbedingt heiraten müssen, um sich diesen Anwärten zu erwehren. Als selbstbestimmte Witwe wäre sie nicht weit gekommen. Sie war auch noch wohlhabend. Eine sehr interessante Kombination für die sicherlich vielen faulen Anwärter. Sie musste vom Markt und unter die nächste Haube. Falsche Zeit, unerbittliches Schicksal! Und erwählt hatte sie einen sehr liebenswürdigen tiefreligiösen Mann, den ich als meinen Opa akzeptierte.
Und dieser gütige Mann ließ mich an seiner Lehmhausreparatur teilhaben. Ich war hocherfreut diese Wand immer wieder mit der Lehmpampe zu stopfen. Eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen! Handarbeit die gebraucht wurde! Es drohte der Zerfall des Hauses! Alles an diesem windschiefen Haus konnte man reparieren, ausbauen ohne gegen eine Bauvorschrift zu verstoßen. Soweit ich mich erinnern kann, hat jeder der einen Hammer in die Hand nehmen konnte an diesem Haus etwas ausgebessert. Es war über Jahre ein kollektives Bauprojekt. Nachts lag man in den dicken Decken unter den riesigen Holzbalken, immer das Geräusch der Holzwürmer im Ohr. Man konnte wirklich hören wie sie sich durch das Holz fraßen, genüsslich darauf kauten und aus den winzigen Löchern das verdaute auf die Schlafenden herunter fallen ließen. Die Mutprobe war nachts auf die Toilette zu gehen. Die war natürlich nicht im Haus, sondern so 30 Meter entfernt durch den Garten, über einen kleinen Bach rüber, rechts abbiegen zwischen Bäumen und Feldrand. Der Weg dort hin war immer kalt, beschienen mit dem spektakulärsten Sternenhimmel, Hundegebell von irgendwoher. Eine romantisch gruselige Atmosphäre. Alles an diesem Plumpsklo war improvisiert. Es knarrte die ganze Konstruktion, es stank, aber es tat seinen Dienst, über so viele Jahre. So wie es war, blieb es bis zuletzt, auch wenn die Abwassergesetze das eigentlich nicht vorsahen. Bei meiner Oma galten diese Gesetze nicht.
Wasser holen war die Tortur des Tages. Der Wasseranschluss ins Haus wurde viel viel später realisiert. So musste es von einer Quelle geholt werden, die so um einen Kilometer oder mehr am anderen Ende des Dorfes lag.
Immer zwei Holzeimer in die Hand nehmen und mit den anderen Mädchen des Dorfes zur Quelle schlendern. Mitten durch das kleine Dorf unter Beobachtung der wenigen Bewohner. Da wenig los war, war jeder an jedem interessiert. Am Ende der Häuser rechts abbiegen auf einen Feldweg, flankiert von großen Obstgärten, Pappeln und unendlich grünen Büschen mit Beeren und Früchten die ich nicht kannte. Pappeln diese leicht depressiven Bäume, die sich immer hin und her wiegen, immer rascheln, waren das super Bauholz für diese Art der Lehmhäuser. Kerzengerade in den Himmel wachsend. Sie waren auch zum Grenzen markieren hervorragend geeignet. Immer wenn ich mal meine Oma fragte was denn wem gehörte, an dieser unendlichen Weite, dann waren es meist Pappeln an denen wir uns orientieren konnten. Sie zogen in gerader Linie, sich wiegend und wissend, die Grenze zwischen mein und dein ganz ganz weit weg in der Ferne.
Dieser Weg zwischen Bäumen und Gärten führte zu einer Quelle, die kurz vor einem breiteren Bach lag. Das Wasser plätschere ununterbrochen in einen Wassertrog, der den ganzen Tag auch etlichen Tiere als Wasserquelle diente. Man musste vorher mal von weitem checken welche Tiere gerade da waren. Hunde waren auch tagsüber mit Respekt zu behandeln. Auf dem Weg dort hin hatten wir Spaß, machten Abstecher in die Gärten, pflückten Obst von den Bäumen. Auch da war Vorsicht geboten. Manche wollten einfach ihr Obst mit den wenigen Dorfbewohnern nicht teilen. Menschen bleiben menschlich seltsam, egal in welchem Winkel der Welt! Irgendwann kamen wir auch an der Quelle an. Spritzten uns nass, gingen zum Bach spielen und sicherlich wurden auch mal die Eimer mit Wasser gefüllt. Ich glaube nicht, dass meine Oma je wirklich auf meine Wassereimer gewartet hat.
Abends waren die gegenseitigen Besuche wichtig. Zu meiner Zeit gab es noch eine erwähnenswerte Zahl von Jugendlichen mit denen wir zusammen sitzen konnten bei Tee und Erzählungen. Einige waren zu Besuch, wie ich, die anderen hatten diesen Ort nie verlassen. Diese Abende habe ich als wirklich freundliche Zusammenkünfte in Erinnerung. Viele Jahre später bin ich mit meinem Freund, meinem heutigen Mann noch einmal diese Strecke nach Sivas gefahren. Es musste der Bus sein, wir hätten uns nichts anderes als Studenten leisten können. Er musste auch das verstehen, was ich ihm zu erzählen versuchte. Ende der 80er hatte sich auch noch nicht so viel verändert. Gut es gab inzwischen Strom und Wasser, aber das Plumpsklo war immer noch an seiner Stelle und der Allgemeinzustand des Hauses unverändert. Das Dorf war hocherfreut über einen hübschen blonden jungen Mann! Ich betone: Wir waren nicht verheiratet! Das hat niemanden wirklich gestört, zumindest mir wurde es nicht vorgeworfen. Sie haben ihn herzlich empfangen, ihn bewirtet, waren extrem an ihm interessiert. Die Abende waren voller Gäste in diesem Haus! Alle wollten dabei sein. Übersetzt habe ich nicht alles. Wesentliche Fragen schon, aber mein Mann hat ein sehr sonniges Gemüt und mit seinem Lächeln und seiner unvoreingenommen Art hat er sie erobert! Mehr war nicht nötig! Sie erzählen heute noch von diesem Besuch!
Manchmal wünsche ich mich zurück in diese ursprüngliche Welt, ohne Moderne, aber nur für einen kurzen Augenblick! Es ist eine schöne und sehr mühsame Welt. Schon längst überholt von Technologie und Zeitgeist.
Die Erinnerungen der Herkunft habe ich tief in mir verankert, aber mit dem Wegzug meiner Oma ging ein Stück Heimat verloren. Sie hatte diesen Ort für uns erschlossen und sinnvoll gemacht. Und längst ist auch Berlin, Moabit meine Heimat geworden. Hier leben alle die ich liebe und deren Nähe mich erfreut. Dennoch überlege ich oft, ob ich noch einmal woanders eine Heimat aufbauen könnte? Eine leichte Sehnsucht in diese Richtung habe ich schon. Warum das wohl so ist?
Was würde ich jemandem auf die Frage antworten, wenn ich z.B. in London leben würde, wo ich denn herkomme? Noch verzweigter Antworten, noch weiter ausholen? Es könnte unübersichtlich und bald unbedeutend werden, die Frage der Herkunft, je mehr ich vom Ursprung weg gehe.
Sollten wir alle mal auf dieser Welt rotieren, um die Grenzen in unseren Hirnen zu sprengen?